Als Kind hörten wir ab und zu noch Musik in Restaurants aus den alten Jukeboxen und den darin enthaltenen 45s Schallplatten. Ich kann mich erinnern, dass mir u.a. der Instrumental-Hit «Flamingo» sehr gefiel. Irgendwie Jazz, aber mit diesem pumpenden Groove als wäre es eine alte Popmusik. Wie gerne hätte ich eine solche Jukebox zu Hause!

Viele Jahre später lernte ich, dass man diese Musik Rhythm and Blues nennt und dass der Saxophonspieler und Bandleader Earl Bostic einer der Begründer dieses Musikstils war und als Saxophonist eine völlig andere Art Saxophon zu spielen einführte.

Leben / Privates (Text mit dem Pfeil aufklappen)

Eugene Earl Bostic kam am 25. April 1913 in Tulsa, Oklahoma zur Welt und stark am 28. Oktober 1965 in Rochester (NY). Er erlitt während eines Auftritts auf der Bühne einen Herzinfarkt (!) und starb zwei Tage später im Spital. Einige Quellen geben auch das Geburtsjahr 1912 an (z.B. www.earlbostic.com)

Bostic hatte einen Abschluss an der „Xavier University“ in New Orleans gemacht und begann danach professionelle Engagements in Orchestern anzunehmen, dabei bald auch renomierte Orchester von Hot Lips Page, Charlie Christian and Cab Calloway. Seite erste Studie-Aufnahme machte er im Alter von 26 (1939) mit dem Lionel Hampton Orchester.

Er eröffnete zusammen mit seiner Frau und eigentliche Clubbesitzerin Hildegarde einen Musikclub „Flying Fox“ in Los Angeles, wo Bostic hinzog, u.B. weil er befürchtete, das feuchte und kalte Klima an der Ostküste schade ihm. Später, kurz vor seinem Tod, wollte er wieder aus Kalifornien wegziehen, weswegen seine Frau die Scheidung einreichte. Er hatte einen Artikel darüber gelesen, dass es bald ein grosses Erdbeben in L.A. geben solle und deswegen (jedenfalls laut gängigen Erzählungen) zog er weg und verliess seine Frau.

Earl Bostic wurde auch als Arrangeur für andere Orchester bekannt, hat aber kaum breit bekannte eigene Songs geschrieben. Die Meisten seiner grossen Hits stammten aus der Feder anderer Autoren und wurden meist vorher schon aufgenommen (wie z.B. auch Flamingo oder Harlem Nocturne)


Spätere in diesem Musikstil tätige Saxophonisten, dem Soul-Jazz, dem Rock ‘n Roll Saxophon oder der Art Saxophon zu spielen in Rock- und Popmusik basieren stark auf dem Sound von Earl Bostic. In seiner Epoche oder Altersklasse gab es nur wenige, die als Mitbegründer dieses, sagen wir mal etwas «marktschreierischen» Stils gelten können, wie Illinois Jacquet oder Louis Jordan und noch ein paar andere (https://tamingthesaxophone.com/saxophone/players/blues-saxophone). Aber keiner dieser teilweise heute bekannteren Musiker konnte technisch so ausgefeilt Saxophon spielen und wusste so viel über das damals erst seit 25 Jahren in der populären Musik etablierte Instrument wie Earl Bostic. Das sagten über die Jahrzehnte etliche berühmte Musiker über Ihren Kollegen oder Bandchef. Unter anderen spielte der junge John Coltrane ein Engagement von einigen Wochen in der BigBand von Bostic und sagte in einem Interview mit dem «Downbeat» Magazin: «Bostic showed me a lot of things on my horn. He has fabulous technical facilities on his instrument and knows many a trick.“ (https://downbeat.com/microsites/prestige/trane-interview.html)

Bostic kannte diverse Saxophontypen in und auswendig, wusste auf welcher Marke oder Typ man welche Spezialgriffe (False-Fingering oder Altissimo-Töne) anwendete wie beispielsweise der aus der Klassik stammende «Saxophon-Doktor» Sigmund Rascher. Er entlockte dem Instrument neue, interessante Spezialeffekte und Klänge und spielte in unvorstellbarem Tempo und präziser Kontrolle in den höchsten Höhen, wie es die wenigsten Saxophonisten je beherrschen werden. Nur moderne Supertechniker und Spezialisten wie Michael Brecker kommen in diesen technischen Spezialbereichen an das Niveau von Earl Bostic heran.

Hier ein Beispiel, wo mir einfach der Kiefer runterfällt

Der Titel Up There In Orbit verspricht nicht zu viel. Wer gleich zu Beginn im Orbit landen möchte und den Start der Rakete überspringen will, beginnt bei 1:38

Der nachfolgend als Rhythm and Blues Saxophonist berühmt gewordene Lou Donaldson bemerkte nach einem Besuch einer Jam-Session, wo Bostic und Charlie Parker gemeinsam auftraten: „Bostic was the greatest saxophone player I ever knew. Bostic was down at Minton’s and Charlie Parker came in there. They played ‚Sweet Georgia Brown‘ or something and he gave Charlie Parker a saxophone lesson. Now you’d see him, we’d run up there and think that we’re going to blow him out, and he’d make you look like a fool. Cause he’d play three octaves, louder, stronger and faster.“ Der ebenso berühmte Bandleader Art Blakey meinte: „Nobody knew more about the saxophone Earl Bostic, I mean technically, and that includes Bird. Working with Bostic was like attending a university of the saxophone. When Coltrane played with Bostic, I know he learned a lot.“ (Wikipedia engl.)

Ich denke, damit wurde genug gesagt, dass sich alle Saxophonist*innen, die sich ernsthaft mit dem Sound auf dem Instrument befassen, sich auch mal der Musik und dem Spiel von Earl Bostic annehmen sollten. Besonders diejenigen, welche in den Bereichen Rock, Pop, Blues und Rhythm and Blues spielen. Für viele mag der Sound der Bands und der Orchester von Bostic am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig sein, gerade für die «Jazzer», welche nicht gerne kommerzielle Musik hören. Der Sound ist bei Bostic bewusst immer sehr kommerziell orientiert: Das Schlagzeug musste stets einen tanzbaren Backbeat schlagen, Vibraphon oder andere Begleitinstrumente legen einen breiten Sound, die Band dient oft wirklich nur zur Untermalung der omnipräsenten Linien des Saxophons. Bostic sagte selbst, er spiele auf Aufnahmen nie experimentelle Linien, sondern konzentriere sich darauf, eine gut verständliche Musik zu kreieren.

Etliche Leute meinten (z.B. auf dem berühmten Instrumentalhit «Flamigo», Bostic spiele Tenorsaxophon, weil das Horn so voll und dunkel klang. Dabei benutzte er auf dem Alto bewusst übergrosse Tenor-Blätter auf dem Alto-Mundstück und lernte diese top zu kontrollieren und dabei natürlich auch viele andere Aspekte für einen offenen, breiten Klang zu berücksichtigen. Nicht immer, aber sehr oft, nutzte er die Technik des «Growling», um einen schärferen, schreienden Sound zu kreieren. Dabei singt der Spieler direkt in das Mundstück, lässt also im Kehlkopf einen wirklichen Ton erklingen, was je nach gesungener Tonhöhe die Luftsäule beeinflusst und den Ton auf dem Saxophon obertonreicher macht. Dazu kommen False-Fingerings (nicht gängigen Griffe je Ton), die den Ton je nach Wunsch dunkler, leicht anders intoniert oder lauter erzeugen. Die schnelle Kombination von gängigen Griffen mit False-Fingerings ergibt einen Effekt, als würde man sprachliche Laute einbauen, näher einer menschlichen Stimme, wo je nach Silbe zum gesungenen Ton dieser anders erklingt.
Ein weiterer oft von Bostic angewendeter Effekt ist das „warbling“ oder auch „Texas Wobble“ genannte Art Vibrato, das aber kein eigentliches Vibrato darstellt. Hierzu greift man einen Spezialgriff (man könnte auch sagen, eigenen falschen Griff), der den einen Ton nur unsauber anspricht und leicht zu einem anderen Ton springt. Man greife z.B. ein Eb (mittlere Oktave) und öffne die G-Klappe der linken Hand. Je nach Ansatz klingt ein Bb oder ein G. Wenn man das viel übt, kann der Spieler, ähnlich einem Vibrato in sehr schneller Folge zwischen diesen Tönen hin und her „trillern“. Das ähnelt einen „brass shake“ wie es Trompeter oft tun, dabei in schneller Folge zwischen zwei Tönen hin und her springen nur mit dem leicht geänderten Ansatz.

Leider gibt es keine geschriebenen Anleitungen von Earl Bostic oder Lernmittel von ihm (jedenfalls mir nicht bekannt). Die entsprechenden Techniken zum, Sound oder Effekten finden sich aber in einschlägigen Lernmitteln unterrichtender Saxophonmeister (Rascher, Liebmann u.a.) und in den Links oder anderen Blogbeiträgen auf meiner Website.

Ich habe leider noch kein Video gefunden, wo man Earl Bostic live auftreten sieht, sei es im frühen TV oder so. Wenn jemand einen Link findet, würde mir eine Nachricht sehr gefallen. Danke.